eichsfelder-nachrichten
Über die Zweitverwertung von fremden Anträgen

Wie der Parlamentarismus wirklich funktioniert

Montag, 29. Juni 2020, 14:00 Uhr
Wie Parlamentsarbeit auf Landesebene auch in Thüringen funktioniert, zeigt nachfolgendes Beispiel recht anschaulich. Wobei es unerheblich ist, um welche konkreten Parteien es sich hier handelt. Wichtig ist der Unterschied zwischen Opposition und Regierung, zwischen medialer Macht und Verdrängung der Chronologien der Ereignisse …

Plenarsaal des Thüringer Landtags (Foto: Gerd Seidel / Rob Irgendwer - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15287595) Plenarsaal des Thüringer Landtags (Foto: Gerd Seidel / Rob Irgendwer - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15287595)


Obwohl es so viele Ärzte gibt wie noch nie, ist durch die steigende Lebenserwartung der Menschen, der zunehmenden Multimorbidität (Mehrfacherkrankungen) der Bevölkerung und dem gestiegenen Durchschnittsalter der Ärzte, medizinischen Fachkräfte und Apotheker sowie einem verstärkten Wettbewerb um medizinischen Nachwuchs in absehbarer Zeit mit einem Mangel an Ärzten, Zahnärzten und Apothekern zu rechnen.

Beinahe jeder fünfte Hausarzt in Deutschland ist 65 Jahre oder älter. Jedes Jahr fehlen nach neuesten Angaben des Bundesgesundheitsministeriums in Deutschland allein im Fach Humanmedizin zwischen 3.000 und 6.000 Studienplätze. Bei den Zahnärzten stellt sich de Situation teilweise noch drastischer dar. In den kommenden 10 Jahren wird die Hälfte aller Zahnärzte in Thüringen in Rente gehen.
Eine qualitativ hochwertige, wohnortnahe medizinische Versorgung ist spätestens im Krankheitsfall ein allgemeines Anliegen — so auch der Gedanke der Thüringer FDP Fraktion. Diese reichte im November 2019 einen Antrag ein, welcher die Landesregierung auffordert, ein Konzept zum Ausbau der Studienkapazitäten für die Fächer Humanmedizin, Zahnmedizin und Pharmazie in Thüringen vorzulegen. Neben vielen anderen Fragestellungen, wie beispielsweise der nach den Arbeitsbedingungen des Fachpersonals und der richtigen Verteilung von Ärzten im ländlichen Raum, spielt eben auch die Anzahl an Studienplätzen eine erhebliche Rolle. Das Bundesgesundheitsministerium (BGM) hat deshalb die Länder zu einer deutlichen Aufstockung ihrer Medizin-Studienplätze aufgerufen, denn diese Angelegenheit ist Ländersache.

So weit ist es eine unstrittige Sache - könnte man meinen. Als der Antrag der FDP aber am 31. Januar im Thüringer Landtag debattiert wurde, zeichnete sich ein überraschendes Bild. Der Redebeitrag der Landesregierung, in diesem Falle von einer Staatssekretärin aus dem SPD-geführten Wissenschaftsministerium (dieses ist für Studienplätze verantwortlich), leugnete das Problem einer drohenden Mangelversorgung in manchen Fachbereichen sogar. „(…) einen generellen Ärzte- und Apothekermangel gibt es in Thüringen derzeit und auch – und das möchte ich an dieser Stelle sagen – auf absehbare Zeit nicht.“

An dieser Stelle sei nochmal an die Zahnärzte in Thüringen erinnert. Im Jahr 2035 wird es in Thüringen noch lediglich 34 Kieferorthopäden geben.

Die Staatssekretärin führte weiter aus: „(…) die Erweiterung der Ausbildungskapazitäten (sei) eine Forderung, die keineswegs neu ist und die in der Vergangenheit aus guten fachlichen Gründen nicht weiter verfolgt wurde. Minister Tiefensee hat dazu beispielsweise bereits verschiedene Gespräche unter anderem mit der Präsidentin der Landesärztekammer Thüringens, Frau Dr. Lundershausen, geführt.“
Wie diese guten fachlichen Gründe aussehen, ließ die Staatssekretärin offen. Außerdem plädiert die Landesärztekammer seit Jahren für die Erhöhung der Studienkapazitäten und versucht gemeinsam mit anderen Verbänden, Minister Tiefensee (SPD) davon zu überzeugen. Die Fachverbände äußerten sich dementsprechend in Anbetracht der Plenardebatte voller Entrüstung und Unverständnis. Kämpfen sie doch seit Jahren für das von der FDP vertretene Vorhaben.

Der FDP-Antrag wurde nach der Debatte federführend in den Wirtschafts- und Wissenschaftsausschuss und beratend in den Gesundheitsausschuss überwiesen, in welchem die FDP eine Anhörung von über 35 Anzuhörenden aus dem Gesundheitswesen beantragte. Aufgrund der Corona-Krise wurde diese Anhörung schriftlich durchgeführt und verzögerte sich um einige Wochen.

Das Ergebnis: keiner der Anzuhörenden hatte Einwände gegen das Vorhaben, die Kapazitäten der Studienplätze zu erhöhen. Die Zuschriften wurden am 10.Juni in einer gemeinsamen Sitzung des Gesundheitsausschusses mit dem Wirtschafts- und Wissenschaftsausschuss ausgewertet. Aufgrund der beipflichtenden Stimmen aus der Anhörung war ein Einlenken des Ministeriums zu erwarten. Dieses jedoch verzichtete auf eine Stellungnahme zur Anhörung und nannte den Vorschlag auf Erhöhung der Studienkapazitäten eine „unterkomplexe Betrachtung des Problems“ der Bekämpfung des Ärztemangels. Festzuhalten bleibt, dass trotz der vielen befürwortenden Expertenmeinungen das Ministerium nicht von seiner Position abrückte.

Nur wenige Tage später jedoch schien plötzlich ein Sinneswandel bei der SPD einzutreten. So war überraschenderweise auf der Titelseite einer Thüringer Tageszeitung vom 22.Juni zu lesen, die SPD fordere mehr Studienplätze für den medizinischen Bereich, gleichwohl auch eine Landarztquote. Recht schnell fand sich diese Meldung der SPD-Fraktion in etlichen Thüringer Medien wieder. Auch auf Social-Media fuhr die SPD jetzt ein Großaufgebot an bunten Bildern mit der Forderung nach mehr Studienplätzen auf. Unterstützung erhielte sie dabei von der Thüringer CDU. Von der FDP und dem Antrag vom 26. November 2019 fand sich in der Kampagne kein Wort.

„Wir begrüßen, dass die SPD unseren Vorschlag für mehr Studienplätze nach langer Blockade jetzt aufgreifen will. Hoffentlich kann sie Grüne und Linke auch umstimmen", erklärt Robert-Martin Montag, der gesundheitspolitische Fraktionssprecher der FDP daraufhin mit unverhohlenem Sarkasmus. In der Thüringer FDP-Fraktion weiß man natürlich, dass erfolgreiche Oppositionsarbeit eben auch heißt, die Regierung auf ihre Versäumnisse hinzuweisen und zu erreichen, dass sie letztlich einlenkt. Auch wenn die sich beim Antragsteller nicht bedanken und sich öffentlichkeitswirksam mit den fremden Federn schmücken wird.
Olaf Schulze
Autor: osch

Drucken ...
Alle Texte, Bilder und Grafiken dieser Web-Site unterliegen dem Urherberrechtsschutz.
© 2024 eichsfelder-nachrichten.de