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Wie Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen

Katastrophe 9-Euro-Ticket

Sonnabend, 04. Juni 2022, 07:55 Uhr
Dass Bodo Schwarzberg den Grünen gerade als an der Basis aktiver Naturschützer kritisch gegenübersteht, hat er hier mehrfach geschrieben. Und er kritisiert auch das von der grünen Partei initiierte 9-Euro-Ticket. Ein Erfahrungsbericht vom 3. Juni belegt das sehr drastisch...


Ein langjähriger Studienfreund von mir ist Inhaber einer Bahncard 100. Die mehr als 3.000 Euro teure Chipkarte berechtigt ihn ab Kauf ein Jahr lang zur Nutzung fast aller Züge, die auf deutschen Gleisen unterwegs sind. Er kauft sich die Bahncard 100 seit vielen Jahren, mein Freund ist also ein erfahrener Bahnkunde, der regelmäßig zwischen Halle und Potsdam, Halle und Aachen sowie gelegentlich zwischen Süddeutschland und Halle unterwegs ist.

Mit der Einführung des so genannten 9-Euro-Tickets bat ich ihn um einen Erlebnisbericht nach den ersten beiden Geltungstagen. Dieser fällt geradezu niederschnmetternd aus:
Am 3. Juni sei er mit einem Regionalexpress aus Richtung Hof nach Leipzig gefahren. Er stieg am Sachsen-Anhaltischen Bahnhof Wetterzeube zu. Der Zug sei jedoch so überfüllt gewesen, dass er zunächst geglaubt habe, nicht hineinzukommen. Die Automatiktüren hätten sich ob der Menschenmassen nur unter Schwierigkeiten geöffnet. Schließlich hätten ihn einige Fahrgäste mit vereinten Kräften in den Zug gezogen, in dem die Menschen wie in der sprichwörtlichen Sardinenbüchse standen.

Toilettenbenutzung faktisch ausgeschlossen.
Auf den folgenden Haltepunkten in Richtung Leipzig wären zahlreiche Menschen auf den Bahnsteigen fluchend zurückgeblieben. Viele von ihnen hätten Reisetaschen, Rucksäcke und Koffer dabei gehabt. Sie kamen auf Grund unumstößlicher physikalischer Gesetze (Wo ein Körper ist, kann kein anderer sein) nicht in den Zug, der zudem, trotz der erwartbaren Reisendenflut, nur aus einer Triebwagengarnitur bestanden habe.

Wegen der an jedem Haltepunkt aufkommenden Konflikte zwischen den Wünschen der potenziell Reisenden und der Realität, hätte sich zudem die Verspätung ständig aufsummiert.

Das jedoch war erst der Anfang: Mein alter Studienfreund beobachtete nach seiner Ankunft in Leipzig eine noch viel skurrilere Situation: Man stelle sich einen am Bahnsteig wartenden Regionalexpress mit so vielen Menschen vor, dass sich dessen elektronische Türen nicht mehr schließen lassen. Auf dem Bahnsteig aber stehen weitere potenzielle Fahrgäste, mein Freund schätzte 100, und auch sie wollten mit diesem Zug in Richtung Dessau fahren.

Auf Grund der körperlich unhaltbaren Situation im Zug, der wegen der offenen Türen nicht abfahren konnte und der weiteren in den Zug strebenden Menschen, sollte letzterer schließlich geräumt werden. Ein freundlicher Bahnmitarbeiter habe zunächst jene zum aussteigen aufgefordert, die nicht „unbedingt“ mit diesem Zug fahren müssten. Nach längerem hin und her habe dann die Drohung mit der Bundespolizei dazu geführt, dass einige Fahrgäste freiwillig den überfüllten Zug verlassen hätten. Mit großer Verspätung konnte er schließlich abfahren.

Mein Freund habe dann einen Zugbegleiter angesprochen und ihn nach seiner Meinung gefragt: Dieses Chaos, hervorgerufen durch das 9-Euroticket sei eine absehbare Katastrophe, meinte er demnach. Er und seine Kollegen müssten diese politische Fehlentscheidung in den kommenden drei Monaten ebenso ausbaden, wie die Fahrgäste, die man ja eigentlich vom Nahverkehr begeistern wolle. All diese Zustände seien ein Ergebnis der letzten Wahlen.

Das Erschreckende, und das ist jetzt ein Kommentar des Autors dieses Beitrages, ist die Eindimensionaliät des politischen Denkens, sind die mit der Realität nicht ansatzweise konformen Lobhudeleien der Verantwortlichen über diese ökologische und soziale Fehlgeburt namens 9-Euro-Ticket. Die Ampelregierung, die grünen 9-Euro-Initiatoren und der FDP-Verkehrsminister hätten wissen müssen, welche unhaltbaren Zustände dieses Sparangebot gerade zu Pfingsten bzw. an Wochenenden und in der Ferienzeit auslösen würde.

Seit Jahren beklagt sich die Bahn über einen viel zu kleinen Wagenpark. Das Chaos war also vorprogrammiert. Und eigentlich ist es ja ein Chaos im Chaos. Erst vor kurzem musste die Bahn eingestehen, dass sie ihre eigenen Versprechen hinsichtlich Pünktlichkeit nicht einhalten kann und dass es zahlreiche Beeinträchtigungen durch Baustellen gibt. Und nun auch noch das 9-Euro-Ticket, als ein den Frust der alten und neuen Bahnkunden und die Verspätungen noch einmal verschärfenden politischen Beschluss.

Dabei sollte das 9-Euro-Ticket die Menschen doch eigentlich motivieren, ihr Auto stehen zu lassen, Appetit auf den günstigen und bequemen ÖPNV zu bekommen, und angesichts steigender Spritpreise, Geld zu sparen.
Doch neben dem derzeitigen Chaos auf deutschen Bahnhöfen und in den Nahverkehrszügen sind spätestens im September weiterer Frust und Enttäuschung angesagt: Dann nämlich, wenn man für ein einzelne Fahrt von Nordhausen nach Halle ohne Bahncard wieder rund 20 Euro bezahlen muss und wenn die Bahn, wie schon angekündigt, im Dezember kräftig die Fahrpreise anheben wird.

So jedenfalls wird die Berliner Ampel niemanden vom Auto weglocken. Jahrzehntelang hat die Politik nichts gegen die Stillegung Dutzender Bahnstrecken, gegen die Ausdünnung des ÖPNV unternommen und auch nicht gegen die Verlagerung des Lastverkehrs von der Schine auf die Straße. Auch unter den grünen Umweltministern im Bund änderte sich an der Tendenz nichts.

Die Milliarden für das 9-Euro-Ticket, die die Grünen jetzt als eine Art Verkehrswende feiern, hätten besser in die Wiederbelebung alter Bahnstrecken und die Schaffung eines sozial langfristig ausgewogenenen Bahntarifssystems fließen können.

Die bereits angesprochene Eindimensionalität unserer Politiker, die sich im 9-Euro-Ticket äußert, der Wunsch nach schnellen Effekten statt nachhaltioger Lösungen, wäre ja noch nicht einmal so schlimm, wenn sie sich nicht auch in der Außen- und Sicherheitspolitik fortsetzen würde. Haben sie denn außer schweren Waffen für die Ukraine noch andere Konzepte zur Wiederherstellung des Friedens oder zum Umgang mit einer möglichen Eskalation durch Putin zu bieten? - Es kann einem angesichts unserer Politiker schon manchmal bange werden.

Doch noch einmal zur Bahn: Bald beginnen in den ersten Bundesländern die Sommerferien: Wir dürfen gespannt sein, was dann auf unseren Bahnhöfen und in unseren Zügen geschieht, wenn also dank des Spartarifs tausende Kinder mit ihren Familien zusätzlich zu Oma und Opa, ans Meer, ins Gebirge oder in die Großstädte fahren wollen. Bei 30 oder 35 Grad, dicht gedrängt stehend bei vielleicht noch ausgefallenen Klimaanlagen und zugeschissenen oder wegen Überlastung geschlossenen Zugklos.

Schade ist es. Denn eigentlich ist es wichtig, Menschen und Unternehmen von der Schiene als ökologischen, zuverlässigen und günstigen Transportweg zu überzeugen. Hoffen wir, dass das schlimme Zugunglück, das gestern in Bayern geschah, kein schlimmes Omen für den Fortgang des Bahnsommers 2022 ist.
Bodo Schwarzberg
Autor: red

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