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Dr. Werner Henning heute in Niederorschel

Gedenkwort des Landrates zum Holocaustgedenktag

Freitag, 27. Januar 2023, 16:00 Uhr
"Es ist gut, dass wir uns, nach der Coronapause, im Hier und Heute wieder zusammenfinden, um, am authentischen Ort, der unzähligen Toten zu gedenken, welche ihre persönliche Katastrophe als Folge der deutsch-völkischen Wertevorstellungen des 3. Reiches erlitten haben."...

"Sich hier in Niederorschel daran zu erinnern, ist für uns Eichsfelder deshalb so bedeutsam, weil hier Verderben und Milderung gleichermaßen zusammentrafen. Der Ort, an dem sich Vernichtung ungebremst hätte ausweiten können, war gleichzeitig für viele der Ort ihrer Rettung, weil gute Menschen die sich ihnen gebotenen Chancen für tugendhaftes menschliches Maß genutzt haben. Wir erinnern uns der Namen des Niederorschler Christen Johannes Drössler ebenso, wie des aus Halle stammenden Kommunisten und Kapo Otto Hermann. Beide haben die ihnen eigenen Tugenden geübt und sich und andere damit gerettet.
Wenn die Politik in den letzten 30 Jahren wieder die Forderung erhebt, Deutschland müsse seine gesetzten Werte in der Welt, beginnend auf dem Balkan, dann in Afghanistan und in Mali oder jetzt auch in der Ukraine verteidigen, so ist damit gemeint, dass im Namen dieser grundgesetzlich abgesicherten deutschen Werte andere Bilder vom Menschen niedergerungen werden sollen.

Der Mensch in seiner von uns geglaubten einmaligen Unverfügbarkeit bleibt schnell auf der Strecke, und alle gehen im Wahn ihrer heroisch verteidigten Werte unter, weil die ganze Welt eben nicht so funktioniert, wie geglaubt. Die Menschheitsgeschichte ist voll von der Endlosspirale, Böses mit Bösem zu vergelten. Die Bibel warnt uns davor aus jahrtausendealter Erfahrung.
Eben deshalb ist es auch gut, dass wir im Rahmen der Europäischen Einigung den einstigen hohen Wert der Nation hoffentlich überwunden haben und nie wieder dieser Verengung bedürfen. Die vom ukrainischen Präsidenten beschworene eigene Nation mag in dessen Lage ja verstehbar, darf für uns aber keine Handlungsmaxime im Kontext dieses in Deutschland überwundenen Wertes sein.

Es war gut, von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron anlässlich des 60. Jahrestages der Unterzeichnung des Pariser Élysée-Vertrages deren Warnung vor dem Rückzug ins nationale Schneckenhaus gehört zu haben.

Wer glaubt, im Westen seine Freiheit suchen und finden zu können, der muss auch begreifen, dass der alleinige Wahrheitsbesitz im Denken hier nicht möglich ist und fast allerorten Interessenausgleiche mit konkurrierenden Positionen gefunden werden müssen. Mit deutscher Unterstützung die Freiheit der Ukraine zu verteidigen, ist wohl das Gebot der Stunde, doch ohne Russland besiegen zu wollen. Auch wir sind frei und müssen aus unserem Selbstverständnis heraus entscheiden, was wir verantworten können und was eben nicht.

Die sich hier bekämpfenden Völker leben seit Menschengedenken neben- und auch miteinander. Sie müssen offenbar erneut lernen, sich wechselseitig zurückzunehmen, wie dieses die Deutschen und Franzosen ebenso haben lernen müssen.

Passen wir also auf, nicht einem überwunden geglaubten Patriotismus zu erliegen, der uns, wenngleich über Umwege, wieder dahinführt, wohin wir in zwei Weltkriegen gekommen waren. Bei uns sollten wir deshalb eben die Tugenden üben, welche auf dem Werteverständnis der freiheitlichen Demokratie gründen, in welcher die „Würde des Menschen“ der höchste, unantastbare und offene Wert bleiben muss. Ein System von Stellenwerten, welches den zur Vernichtung freigegebenen Unwert einschließt, muss uns fremd bleiben.

Der Anwendungsfelder unseres Menschenbildes gibt es mehr als genug. Ich verweise auf den gewaltigen Komplex der Flüchtlingsaufnahme zwischen Beherbergung, Begrenzung und willkommener Integration. Verhalten wir uns darin nach den uns gegebenen Möglichkeiten. Der Holocaustgedenktag wurde von Altbundespräsident Roman Herzog dazu bestimmt, uns, in Ansehung unserer deutschen Schuld, der eigenen Grundsätze zu vergewissern und an den einstigen Geschehensorten demütig innezuhalten. Darin liegt eine immerwährende Verpflichtung.
Dr. Werner Henning
Autor: red

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